ver.di-Projekt Entlastung

COGITO-Denkwerkstätten: ‚Entlastung unter Bedingungen indirekter Steuerung‘ des ver.di-Fachbereichs Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen und COGITO

Eine Betriebsrätin einer Klinik schreibt uns:

„Wir wundern uns, dass fast alle Beschäftigten ständig einspringen, dass ihnen die tägliche Höchstarbeitszeit egal ist. Gleichzeitig können sie nicht mehr, haben resigniert. Wenn der Betriebsrat sie über ihre Rechte aufklärt und ihnen ein Strauß an Möglichkeiten des ‚Widerstands‘ mit Unterstützung des Betriebsrats anbietet, greifen es die meisten nicht auf.“

Solche Phänomene sind heutzutage weit verbreitet: Kolleginnen und Kollegen ignorieren ihre eigenen Interessen und verzichten von sich aus auf die Wahrnehmung ihrer Rechte. Sie riskieren sogar ‚freiwillig‘ ihre eigene Gesundheit.

Der herkömmliche Arbeits- und Gesundheitsschutz greift hier nicht. Er ist an der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber ausgerichtet, um die Beschäftigten vor gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen zu schützen. Aufgabe der Betriebsräte, Personalräte und Mitarbeitervertretungen ist es, über die Einhaltung von Regelungen zu Gunsten der Arbeitnehmer*innen zu wachen. Wenn die Kolleginnen und Kollegen selber diese Regelungen unterlaufen, geraten sie in einen Konflikt mit denjenigen, die sie eigentlich schützen wollen. Die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretungen wird in Frage gestellt.

Was steckt dahinter?

Das COGITO-Institut hat solche Veränderungen in Industrie und Dienstleistungsunternehmen untersucht und eine ‚Theorie der indirekten Steuerung‘ entwickelt, die erklärt, was sich hier ändert.

Im Kern geht es um die Einführung eines neuen Organisations- und Steuerungsprinzips durch die Arbeitgeber. Dabei soll die Leistungsdynamik von Selbständigen bei abhängig beschäftigten Arbeitnehmer*innen hervorgerufen werden. Die Beschäftigten finden sich in einer Situation wieder, in der sie neben fachlichen Themen und Problemen nun auch noch betriebswirtschaftliche Kennzahlen im Auge haben sollen.

Wo früher mit Disziplinierung und Motivierung gearbeitet wurde, regieren heute unternehmerischer Erfolg bzw. Misserfolg. In der Folge nehmen Beschäftigte oft keine Rücksicht mehr auf ihre eigenen Interessen – aber nicht, weil sie diese nicht kennen, sondern weil es ein schleichender Prozess ist und sie sich anders nicht zu helfen wissen.

Dabei sind die Veränderungen durchaus ambivalent. Es ist ja gut und richtig, wenn das alte „Kommando-System“ abgelöst wird und Organisationsformen Einzug halten, die auf mehr Selbständigkeit der Beschäftigten setzen. Aber solange wir nicht wissen, wie diese Entwicklung auch zum Vorteil und im Interesse der Arbeitnehmer*innen genutzt werden kann, kann sich auch durch eine im Prinzip richtige Entwicklung die Lage der Beschäftigten dramatisch verschlechtern.

An dieser Stelle setzt unser Modell-Projekt an. Zusammen mit dem COGITO-Institut betritt der Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen Neuland.

Wir laden 20 ver.di-Mitglieder mit Leitungsfunktionen (Stationsleitungen/Wohnbereichsleitungen) aus Kliniken und Pflegeeinrichtungen ein, zusammen mit den Wissenschaftler*innen vom COGITO-Institut Vorschläge für Maßnahmen zu entwickeln, die auf die beschriebene Situation antworten.

Wir wenden uns im ersten Schritt an Führungskräfte, weil sie die Problematik von beiden Seiten kennen. Einerseits müssen sie selber Prozesse indirekt steuern, andererseits werden sie selbst indirekt gesteuert, nämlich an ihrem Beitrag zum unternehmerischen Erfolg gemessen.

Die COGITO-Denkwerkstätten wollen zunächst die Teilnehmer*innen mit der Theorie der indirekten Steuerung und dem Konzept der interessierten Selbstgefährdung bekannt machen und erkunden, wieweit die Teilnehmer*innen diese Denkanstöße zur Analyse ihres Arbeitsalltags nutzen können. Auf diesem Hintergrund sollen dann die Erfahrungen und Einschätzungen der Teilnehmer*innen selbst als Fundament für die Entwicklung von Ideen und Konzepten zur Entlastung genutzt werden. Ziel des geplanten Modell-Projekts ist die Entwicklung von gewerkschaftspolitischen Strategien und Interventionsformen, die auch dort greifen, wo die Beschäftigten selbst zum unmittelbaren Subjekt der Gefährdung ihrer eigenen Gesundheit werden.

Es werden drei Denkwerkstätten mit jeweils zwei Tagen durchgeführt. Die Teilnehmenden verpflichten sich, am gesamten Projekt teilzunehmen. Am zweiten Tag der dritten Denkwerkstatt werden die Ideen und Konzepte mit einem Kreis aus Mitgliedern des Bundesfachbereichsvorstandes, Landesfachbereichsleiter*innen und Bereichsleiter*innen des Bundesfachbereiches präsentiert und beraten.

Zwischen den Denkwerkstätten findet eine enge Begleitung der Denk- und Gestaltungsprozesse der Teilnehmer*innen durch COGITO statt.

Wir freuen uns auf dieses außerordentliche Projekt und sind gespannt auf die Erkenntnisse.

Mit kollegialen Grüßen

Sylvia Bühler
ver.di-Bundesvorstand                                                                                 

Dr. Klaus Peters
Vorstand des COGITO-Institutes