Programmatik

Gründungserklärung des Instituts vom April 2002

COGITO sieht sich einer bestimmten programmatischen Position verpflichtet, die durch die Arbeit des Instituts vertieft und zu einer Basis für praktische Interventionen weiterentwickelt werden soll. Die Position soll im folgenden kurz umrissen werden.

Autonomie ist – bezogen auf verschiedene Gegenstände – Gegenstand in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Dass wir sie zum Gegenstand einer eigenen Forschungseinrichtung machen wollen, geht auf eine Zweideutigkeit zurück, die sich seit mehreren Jahren in der wissenschaftlichen Literatur beobachten läßt: einerseits wird von der Autonomie des menschlichen Individuums als seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung gesprochen, andererseits aber von der Autonomie von Systemen und Prozessen (z.B. des Marktes), die sich gerade darin bewähren würde, dass die Individuen bis in ihre willentlichen Entscheidungen hinein von der Eigendynamik ihrer Handlungsbedingungen bestimmt würden.

Was ist Autonomie?

Das ist keine neue Frage. Sie ist zuerst von Kant und Hegel gestellt worden und hat als das Problem der Freiheit philosophisches Denken zu Anfang des 19. Jahrhunderts regiert, so dass Hegel die Philosophie geradezu als „die Wissenschaft von der Freiheit“ bestimmen konnte (Enzyklopädie, 1817. Einleitung). Wollte man an dieser Bestimmung festhalten, könnte man statt von ‚Autonomieforschung’ ebensogut von ‚Philosophie’ sprechen und COGITO ein ‚Institut für Philosophie’ nennen.

Das wäre jedoch irreführend, weil wir unser Selbstverständnis nicht zuerst aus der philosophischen Fachdiskussion von heute gewinnen, – wie es auch nicht zu den vorrangigen Zwecken unseres Instituts gehören soll, sich in die Auseinandersetzung um das heutige Selbstverständnis von Fachphilosophen einzumischen. Unser Interesse liegt woanders. Für die Gründung des COGITO-Instituts war entscheidend, dass die oben genannte Zweideutigkeit der Autonomie ihre Entsprechung in der heutigen Realität findet und eine Schlüsselstellung innehat bei der Interpretation bestimmter aktueller gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen.

Hinter der terminologischen Zweideutigkeit verbirgt sich ein methodisches Problem: Wir haben den Eindruck, dass in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vorausgesetzt wird, dass man schon wisse, was Autonomie sei – oder dass man sich ‚Autonomie’ als bloßen Terminus nach den jeweiligen fachlichen Anforderungen willkürlich zuschneiden könne. Wir wollen unsere Arbeit dagegen auf eine Auseinandersetzung mit der Frage gründen, was Autonomie ist und ob sie überhaupt möglich ist.

Autonomie und Betrieb

Seit vielen Jahren studieren Wilfried Glißmann und Klaus Peters die Ausbreitung einer prinzipiell neuen Organisationsform großer Unternehmen – vor allem am Beispiel der IBM. Diese neue Unternehmensorganisation verbindet beides: ein Abbau von Kommandostrukturen gibt den Individuen mehr Autonomie, während gleichzeitig die Autonomie inner- und außerbetrieblicher Systeme und Prozesse dazu benutzt wird, das Handeln von Individuen indirekt zu steuern, so dass der Abbau der Kommandostrukturen das Unternehmen nicht etwa ins Chaos führt, sondern in einen höheren Grad von Organisiertheit.

Die Unternehmen erreichen dadurch enorme Produktivitätssteigerungen, die sich einer vermehrten Nutzung der Kräfte und Fähigkeiten der abhängig beschäftigten Menschen verdanken. Diese Menschen wiederum finden sich konfrontiert mit einer enormen Steigerung des Leistungsdrucks – Ausdehnung der tatsächlichen Arbeitszeiten bei gleichzeitiger Leistungsverdichtung – , die nun aber nicht mehr durch Anweisungen ‚von oben’, sondern durch vermehrte Selbständigkeit am Arbeitsplatz bewirkt wird und von ihnen selbst auszugehen scheint. 

In dem Buch: „Mehr Druck durch mehr Freiheit – Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen“ (Hamburg: VSA, 2001) haben Wilfried Glißmann und Klaus Peters diese Phänomene in eine freiheitstheoretische Perspektive gestellt. Wir vertreten die These, dass durch die neue Organisationsform der Unternehmen Autonomie von ihrem Gegenteil übergriffen und selbstbestimmtes Handeln von Individuen zum Gegenstand einer indirekten Steuerung, also zum Gegenstand von Fremdbestimmung gemacht wird.

Die Befreiung zum Problem der Befreiung   

Dies könnte als praktischer Beweis verstanden werden dafür, dass die Möglichkeit individueller Autonomie eine Fiktion und die neue Herrschaftsform im Betrieb reines Teufelszeug sei. Wir bewerten die Sache anders. Die neue Unternehmensorganisation bringt unserer Meinung nach eine Befreiung von Verstellungen mit sich, die das Freiheits- und Autonomieproblem praktisch, wie theoretisch durch das Kommandosystem erfahren hat. Darum ist dessen Abschaffung uneingeschränkt zu begrüßen – nicht als Übergang in das Reich der Freiheit, sondern als eine praktische ‚Befreiung zum Problem der Befreiung’. Im betrieblichen Alltag zeigt sich heute, dass die Autonomie des Individuums erst durch eine Aufhebung ihrer Vereinnahmung durch ihr Gegenteil – die Eigendynamik autonomer Systeme und Prozesse – verwirklicht werden kann und nicht schon durch eine Überwindung von Kommandostrukturen.

Schwerpunkte unserer Programmatik

Aus dieser Perspektive ergeben sich zwei Schwerpunkte für die Programmatik, ebenso wie für die künftige Arbeit des COGITO-Instituts:

Erstens stehen wir im entschiedenen Gegensatz zur Ideologie des Neoliberalismus, die in der Nachfolge von Hayeks die Freiheit des Individuums im freien Unternehmertum verwirklicht sieht. Mit der vorherrschenden Kritik am Neoliberalismus sind wir allerdings uneins. Sie überspringt eine Auseinandersetzung mit dessen Freiheitsverständnis und will aus fertigen moralischen oder politischen Voraussetzungen zu ihren Urteilen kommen. Unsere Kritik zielt darauf, dass der Neoliberalismus die Freiheit des Individuums verfehlt und verfälscht – und nicht etwa darauf, dass er sie zu sehr betont. Anhaltspunkte für die Begründung dieser Position gewinnen wir vor allem aus einem neuen Blick auf die freiheitstheoretischen Implikationen der Kapitalismuskritik von Marx.

Zweitens gehen wir davon aus, dass sich durch die Veränderungen in der Organisationsform der Unternehmen die Funktion verändert, die einer Theorie der Autonomie für die praktische Verwirklichung von Autonomie zukommt. Sie darf sich nicht damit zufrieden geben, in der Rolle einer allgemeinen Metatheorie Verständigungserfolge unter Experten zu erzielen. Letztere werden sogar irrelevant, wenn sie die Kontinuität abreißen lassen zu den Selbstverständigungsprozessen der Menschen, nach deren Autonomie gefragt wird. Dies nicht erst aus wissenschaftspolitischen, sondern schon aus logischen Gründen: ein ‚Experte für Autonomie’ fällt aus seiner Expertenrolle, sobald er nach seiner eigenen Autonomie fragt. Andererseits verschwindet deswegen nicht schon der Unterschied zwischen der Selbstverständigung des Einzelnen und einer „Wissenschaft von der Freiheit“, und gerade die Kritik und Aufhebung einer sich auf sich selbst beschränkenden Fachdiskussion verlangt wiederum nach fachlichem Wissen.

In diesem Sinne haben wir unsere Untersuchungen über das Prinzip der neuen Unternehmensorganisation von Anfang an auf Erfahrungen gestützt, die wir mit Selbstverständigungsprozessen an der betrieblichen Basis gemacht haben.