Krokodil

Das COGITO-Krokodil wurde erfunden auf einem Seminar von COGITO für das Betriebsratsgremium der Novartis-For­schungs­in­sti­tute in Wien am 27. März 2000. Es bestand seine erste Feuerprobe am 20. September 2000 auf einer Fachtagung der IG Metall zum Thema „Arbeiten ohne Ende? – Meine Zeit ist mein Leben!“ in Stuttgart (in einer kontroversen Podiumsdiskussion mit Andreas Hoff von der Arbeitszeitberatung Hoff, Weidinger und Partner). Seitdem hat es bei zahlreichen Betriebsräteseminaren und Betriebsversammlungen eine tragende Rolle gespielt für die Erklärung des Prinzips der Indirekten Steuerung. K.P.

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Wie Krokodile Vertrauen schaffen

Die neue Selbständigkeit im Unternehmen: Arbeiten ohne Ende?

(Aufzeichnung eines Vortrags von Klaus Peters bei einem Workshop der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung der Gewerkschaft ver.di. Veröffentlicht in: Lorenz/Schneider, Hrsg., Vertrauensarbeitszeit – Arbeitszeitkonten – Flexi-Modelle. Konzepte und betriebliche Praxis. Hamburg: VSA, 2005. S. 63-76)

Im Dezember 1998 wurden bei IBM Deutschland die Stempeluhren abgeschafft. In dem zugrundeliegenden Tarifvertrag zwischen IBM und der damaligen DAG heißt es: „Vertrauen soll an die Stelle von Kontrolle treten.“ Seitdem darf dort jeder kommen und gehen, wann er will. Es wurde den Beschäftigten zwar anheim gestellt, ihre Arbeitszeiten noch zu dokumentieren, aber die Geschäftsführung bekundete, dass sie sich für die Ergebnisse dieses Privatvergnügens eigentlich nicht interessiere.

Ich möchte jetzt statt irgendwelcher theoretischer Zusammenhänge zunächst einmal von einer Erfahrung berichten, die ein Mitarbeiter von IBM mit der sogenannten Vertrauensarbeitzeit gemacht hat. Anschließend werde ich ein paar Fragen aufwerfen, die sich im Zusammenhang mit dieser Erfahrung stellen. Und schließlich werde ich den Versuch machen, das ganze in die Perspektive einer Theorie der Vertrauensarbeitszeit bzw. der zugrundeliegenden neuen Organisationsform im Unternehmen zu stellen.

Ein betriebliches Beispiel

Ein älterer Mitarbeiter von IBM hat in immer größerem Maß gesundheitliche Probleme bekommen wegen einer ständigen Intensivierung seiner Arbeit bei gleichzeitiger Verlängerung seiner faktischen Arbeitszeit. Er hat gemerkt, dass er sich in einer Sackgasse befindet, und er hat sich die Frage vorgelegt, wie er sich helfen kann.

Die Antwort war schnell gefunden: ‚Ich müsste weniger arbeiten!’ – wobei ‚weniger’ hieß: ‚nicht länger als ich vertraglich zu arbeiten verpflichtet bin’. Er hat seine Situation analysiert und sich gefragt, warum er so lange arbeitet. Und er hat niemanden gefunden, der ihn dazu gezwungen hat – keine Vorgesetzten, aber auch keine Kollegen. Also hat er sich gedacht: ‚Sehr gut! Wenn es an mir selbst liegt, dann kann ich es auch selber ändern! Ab sofort wird nur noch so lange gearbeitet, wie ich wirklich arbeiten muss!’ Er war stolz auf seinen Entschluß – so wie man stolz ist auf den Entschluss, morgens Frühsport zu machen. Und er ist zu den Kolleginnen und Kollegen seines Teams gegangen und hat ihnen diesen seinen Entschluß mitgeteilt.

Dabei ist etwas sehr Aufschlußreiches geschehen, etwas, das wahrscheinlich nicht gerade typisch ist für solche Fälle, aber gerade das Ungewöhnliche an diesem Fall macht ihn so lehrreich. Die Kolleginnen und Kollegen haben ihm nämlich gesagt: ‚Gut, dass du das ansprichst! Wir beobachten das schon seit einiger Zeit, dass es mit Deiner Gesundheit immer schwieriger wird! Wir waren bloß noch nicht so mutig, das Problem von uns aus anzusprechen. Wir finden es richtig, was Du da beschlossen hast, und wir werden Dich bei der Umsetzung deines Entschlusses unterstützen! Arbeite nicht mehr länger, als du eigentlich mußt!’ Und dann haben sie einen ganz kurzen Satz hinzugefügt, und der hieß: ‚Wir machen deine Arbeit dann mit!’

Das war die Lage. Und was ist geschehen? Nun, zunächst ist der Kollege seinem Vorsatz treu geblieben. Aber dann hat er zu Hause gesessen und daran gedacht, dass seine Kolleginnen und Kollegen seine Arbeit mitmachen – seinetwegen! Weil er sich an die tariflich vereinbarten Arbeitszeiten hält, machen sie seine Arbeit! Und da er genau wusste, wie viel Arbeit das war, hatte er ziemlich genaue Vorstellungen davon, was das für die anderen bedeutete. Das hat er nicht lange durchgehalten, und nach einer Woche hat er wieder genauso lange gearbeitet wie vorher, d.h. er hat das Gegenteil dessen getan, was er selbst für richtig hielt, weil er ein schlechtes Gewissen gehabt hat gegenüber den anderen. Ein Jahr später hat er ein Angebot zum vorzeitigen Ruhestand angenommen. Er hat das Problem nicht gelöst. Er ist jetzt nicht mehr Mitarbeiter bei IBM.

Durch Solidarität zu mehr Leistungsdruck?

Wie gesagt: dieses Beispiel repräsentiert nicht gerade die häufigste Verlaufsform solcher Konflikte. In den meisten Fällen wird man wahrscheinlich beobachten können, dass die Kolleginnen und Kollegen ganz anders reagieren – dass sie zum Beispiel sagen: ‚Das können wir uns als Team nicht leisten, dass du dich an die vertraglichen Arbeitszeiten hältst!’ Das ergibt dann einen massiven sozialen Druck bis hin zum Mobbing. Das geschilderte Beispiel finde ich aber gerade deswegen so lehrreich, weil hier das Gegenteil passiert und unterm Strich trotzdem dasselbe herauskommt. Daran kann man ablesen, dass wir es in den Unternehmen mit Bedingungen zu tun bekommen, in denen sich auch noch die Solidaritiät unter den Mitarbeitern als ein leistungsdruck-steigernder Mechanismus auswirken kann. Darum kann man an dieser Geschichte so viel ablesen über das, was sich in puncto Vertrauensarbeitszeit an neuer Problematik in den Betrieben stellt.

Es war ja auch früher nicht so, dass alle Arbeit geschafft war, wenn die Arbeitszeit vorbei war. Aber die Arbeit, die liegenblieb, blieb beim Arbeitgeber liegen. Er mußte sich etwas einfallen lassen: Überstunden beantragen, neue Leute einstellen – jedenfalls war es sein Problem. Jetzt finden wir uns offenbar unter Bedingungen wieder, in denen die liegengebliebene Arbeit unser Problem ist, so dass, wenn einer sich an die vertragliche Arbeitszeit hält, die anderen sich gezwungen sehen, ‚seine Arbeit mitzumachen’. Eine verwirrende Situation, die für den Betroffenen zu schwierigen Fragen führt, wenn er seine eigene Situation verstehen will.  

Es ist ja etwas Merkwürdiges, was ihm da passiert. Er hat seine eigenen Interessen erkannt. Er weiß, was er will – nur noch so lange arbeiten, wie er arbeiten muss. Er hat einen Entschluss gefasst, das zu tun, was ihm richtig scheint. Er hat die Unterstützung seiner Kolleginnen und Kollegen und – tut trotzdem am Ende das Gegenteil von dem, was er will, und zwar so – jetzt wird es schwierig, einen richtigen Ausdruck dafür zu finden – , dass er es von sich aus tut. Niemand zwingt ihn. Ihn treibt nur sein eigenes schlechtes Gewissen gegenüber den eigenen Kolleginnen und Kollegen.

Die Fragen, die sich für so einen Menschen stellen und sich in den Gesprächen gestellt haben, die wir damals bei IBM geführt haben, heißen zum Beispiel:

  1. ‚Machst Du das jetzt freiwillig oder unfreiwillig, dass Du Dich entgegen Deinem eigenen Beschluss verhältst?’
  2. Bist Du eigentlich heute selbstständiger als früher? Oder warst Du früher selbstständiger als heute? Und wie willst Du Dir darüber klar werden?
  3. Ist Solidarität jetzt gefährlich für mich? Wie kommt es, dass die Solidarität zu etwas wird, was den Leistungsdruck steigert?
  4. Warum kommt eigentlich in dem ganzen Konfliktverlauf der Arbeitgeber nicht vor?’ Das ganze stellt sich dar als Konflikt, den dieser Mensch mit sich selber hat und den er dann mit seinen eignen Kolleginnen und Kollegen hat. In der ganzen Szenerie taucht kein Manager auf, kein Arbeitgebervertreter.

Solche Fragen sind außerordentlich schwierig zu klären. Und in demselben Maße, wie sie schwer zu klären sind, wird es immer wichtiger, dass sie geklärt werden. Ein Mitarbeiter eines Unternehmens, der in eine solche Situation hineinkommt, wird überhaupt nicht handlungsfähig, solange er sich über diese Fragen nicht mit sich selbst verständigt. Für Betriebsräte und Gewerkschaften, die ihm helfen wollen, gilt dasselbe.

Man könnte natürlich einwenden, dass das geschilderte Dilemma ja im Grunde etwas Bekanntes ist. Jeder, der schon mal versucht hat, mit dem Rauchen aufzuhören, kennt im Grunde diese Art von Konflikt: Man weiß, dass man tut, was einem selber schadet, obwohl man es weiß und obwohl man einen Entschluß gefaßt hat, sich anders zu verhalten. Bei solchen Gelegenheiten fängt der eigene Wille gleichsam an zu schielen. Man will zwei entgegengesetzte Dinge auf einmal, mit dem Rauchen aufhören und doch die nächste Zigarette rauchen. Solche Zerrissenheiten sind gewiß nichts neues. Neu ist, dass so etwas zu einem Schlüsselproblem für das Verständnis der betrieblichen Realität wird. Deswegen muss es jetzt studiert und erklärt werden im Hinblick auf die Funktion dieses Problems in der neuen Unternehmensorganisation.

Die organisierende Kraft der Pistole

Ich glaube, dass die Hauptschwierigkeit bei der Beantwortung der eben genannten Fragen in der bisherigen Unternehmensorganisation selbst liegt. Wir sind gewohnt, betriebliche Leitungsstrukturen auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu denken, und das liegt an der Art und Weise, wie Unternehmen und Betriebe herkömmlich organisiert waren. Um das zu erklären, nehme ich ein ganz einfaches Beispiel für ein Führungsproblem. Dem Beispiel wird man entgegenhalten können, dass es ‚zu einfach’ ist, aber es kann zunächst gar nicht einfach genug sein, weil das, worum es geht, so kompliziert ist.

Angenommen, eine Führungsperson steht vor der Aufgabe, einen Mitarbeiter dazu zu bringen, von Punkt A nach Punkt B zu gehen. Wie macht man das? Nun, jeder weiß, wie das geht: Man spricht eine Anweisung aus. „Tu das!“ Die Anweisung wird dadurch zu einer Anweisung, dass derjenige, der die Anweisung gibt, eine Antwort parat hat für den Fall, dass derjenige, der der Weisung folgen soll, „Nein!“ sagt. Wenn die Führungsperson darauf keine Antwort hat, hat sie keine Anweisung gegeben, sondern nur einen Rat gege- ben oder eine Bitte geäußert. „Tu mir bitte den Gefallen, und geh zu Punkt B!“ Es ist wohl klar, dass man mit solchen Bitten kein Unternehmen führen kann. Wenn man ein Unternehmen führen will, dann muss man schon irgendwie sicherstellen, dass der Weisungsgebundene tut, was der Weisungsberechtigte will, und ‚sicherstellen’ heißt, dafür zu sorgen, dass der Weisungsgebundene auch dann tut, was er soll, wenn er es selber gar nicht will. Und das erreicht man dadurch, dass man den Wunsch oder die Bitte durch eine Strafandrohung ergänzt: „Geh bitte zu Punkt B! Wenn Du es nicht tust, dann …“. Durch die Strafandrohung wird die Bitte zum Kommando, und mit Kommandos kann man in der Tat ein Unternehmen führen.

Ich versinnbildliche die Strafandrohung mittels des Bildes einer Pistole und nenne das Ganze das ‚Modell Pistole’. Also: Geh von Punkt A nach Punkt B! Wenn Du es nicht tust, wirst Du erschossen! Das ist der Befehl in Reinformat. Damit wird etwas erreicht, was man nicht als eine bloße Schikane von Mitarbeitern eines Unternehmens missverstehen darf. Es handelt sich vielmehr um ein ungeheuer nützliches Organisationsprinzip. Es ist nützlich, dass man den Willen des Einzelnen einem Willen von Vorgesetzten, von Kommandanten unterordnet, weil erst durch diese geniale Erfindung aus einem unorganisier- ten Haufen von Individuen, von denen jeder tut, was er selber will, eine Organisation wird, die koordiniert handeln kann. Es ist dies übrigens keine Erfindung des Kapitalismus, sondern ein sehr viel älteres – viele tausend Jahre altes – Prinzip, das von den modernen Wirtschaftsunternehmen nur übernommen und für ihre Zwecke angepasst wurde.


In diesem ‚Modell Pistole’ fällt zwischen Arbeitszeit und Freizeit ein klarer und höchst übersichtlicher Unterschied. Die Arbeitszeit ist nämlich die Zeit, in der ich tun muss, was mir gesagt wird, und die Freizeit ist die Zeit, in der ich tun kann, was ich selber will. Wenn ich abstemple und reingehe in Betrieb, verlasse ich den Bereich, in dem ich tun kann, was ich selber will, und muss wieder tun, was mir gesagt wird, und umgekehrt, und dafür, dass ich tue was mir gesagt wird, werde ich bezahlt, und weil ich gerne bezahlt werden will, tue ich, was mir gesagt wird. Soweit – und so einfach – das ‚Modell Pistole’.


Und nun werden wir in den Unternehmen mit dem erstaunlichen Angebot der Arbeitgeber konfrontiert, auf Kommandos zu verzichten und an ihre Stelle – Vertrauen zu setzen! Die Pistolen werden weggeworfen, und es wird von uns verlangt, dass wir nun nicht erst in der Freizeit, sondern auch während der Arbeitszeit tun sollen, was wir selber wollen. Für unser, vom Modell Pistole geprägtes Denken ist das eigentlich völlig unvorstellbar. Wir sagen uns, dass da doch irgendetwas nicht stimmen kann. In dem Moment, wo der Arbeitgeber die Pistole wegwirft, braucht keiner mehr den Anweisungen zu folgen und in dem Moment – so scheint es uns – wird aus der Organisation wie- der ein unorganisierter Haufen, weil nun wieder jeder tut, was er selber will – jetzt auch während der Arbeitszeit. Das kann doch wohl nicht wahr sein!

Es ist auch nicht wahr! Die Vokabel Vertrauen und diemerkwürdige Konjunktur, die diese Vokabel zurzeit in Arbeitgebermund erlebt, hat unter anderem die Folge, das Problem, das sich an dieser Stelle wirklich stellt, zu verdecken. Es geht natürlich nicht darum, dass die Arbeitgeber darauf verzichten, ihre Unternehmen nach ihrem eigenen Willen zu führen, sondern es geht um etwas anderes, nämlich darum, dass ein bestimmtes Prinzip der Führung, ein bestimmtes Prinzip der Unternehmensorganisation durch ein neues Prinzip ersetzt wird. Es geht um die Einführung einer neuen Herrschaftsform im Betrieb als Voraussetzung unter anderem für solche Phänomene wie Vertrauensarbeitszeit, und für die Erklärung dieses Prinzips will ich noch einmal auf das Modell Pistole zurückgreifen und es jetzt in entscheidender Weise verändern.

Das Krokodil als Vertrauensgrundlage

Der Arbeitgeber wirft die Pistole weg und sagt: „Lieber Mitarbeiter, ab sofort kannst Du auch während der Arbeitszeit tun, was Du selber willst! Viel Spaß!“ Das ist alles, was er dem Mitarbeiter sagt. Aber es ist nicht alles, was er tut! Er macht noch etwas anderes. Er besorgt sich nämlich anstelle der Pistole ein neues Utensil, sagen wir: ein Krokodil. Bleiben wir, um die Sache zu verdeutlichen, bei unserer Modellsituation: der Chef will wieder einmal erreichen, dass sein Mitarbeiter von Punkt A nach Punkt B geht. Aber er fuchtelt nicht mehr mit der Pistole herum und brüllt keine Kommandos, sondern er greift zum Krokodil. Er plaziert es am Punkt A – im Rücken des Mitarbeiters – und richtet die übrigen Rahmenbedingungen so ein, dass sich der Mitarbeiter nur in Sicherheit bringen kann, wenn er – möglichst flott – zu Punkt B entweicht. Ein besonderes Kommando ist in diesem Fall offenkundig nicht mehr nötig. Das Krokodil erweist sich als eine echte Vertrauensgrundlage: der Vorgesetzte kann nämlich darauf vertrauen, dass der Mitarbeiter – auch von sich aus! – tut, was der Vorgesetzte will. – Das ist das ‚Modell Krokodil’.

Nun sind wir, wie schon mehrfach gesagt, von dem Modell Pistole in unserem eigenen Denken so geprägt, dass es uns gar nicht so leicht fällt, den Unterschied zwischen dem Modell Pistole und dem Modell Krokodil zu erkennen. Man könnte sagen: In beiden Fällen erreicht der Vorgesetzte, was er will; in beiden Fällen muss der Mitarbeiter tun, was der Vorgesetzte will; das eine Mal wird er erschossen, wenn er es nicht tut, das andere Mal wird er gefressen, wenn er es nicht tut; in beiden Fällen wäre er am Ende tot. Wo also ist der Unterschied? Das Verständnis der Vertrauensarbeitszeit hängt davon ab, dass man an dieser Stelle mit allen Kräften gegen die Gewohnheiten des eigenen Denkens anrudert und den Unterschied zwischen den beiden Modellen scharf ins Auge faßt.

 

Der erste Unterschied besteht schon darin, dass der Mitarbeiter im Modell Krokodil schneller läuft. Warum? Dafür hat er gute Gründe. Er läuft deswegen schneller, weil er mit einer ganz anderen Art von Bedrohung konfrontiert ist als im Fall Pistole.

Der Kommandant, der mich mit der Pistole bedroht für den Fall, dass ich nicht tue, was er will, will mich nicht erschießen! Er will, dass ich zu Punkt B gehe, und wenn er mich erschießt, hat er nicht erreicht, was er will. D.h. er erschießt mich nur im Fall seines eigenen Mißerfolgs! Daraus ergibt sich eine teilweise Übereinstimmung der Interessen zwischen mir und dem Kommandanten in puncto Vermeidung der Strafe. Bestrafungen in Unternehmen sind eigentlich kontraproduktiv. Produktiv ist die Drohung mit der Bestrafung, und die Drohung würde unglaubwürdig, wenn man ihr nicht auch notfalls die Strafe folgen ließe. Aber wenn es dazu kommt, ist das für alle Beteiligten ein Mißerfolg.

Ganz anders im Modell Krokodil. Das Krokodil will nicht nur nicht, dass ich zu Punkt B gehe, sondern es setzt alles daran zu verhindern, dass ich den Punkt B erreiche! Es will mich vorher erwischen! Und das hat die überraschende Folge, dass ich nun selbst den Punkt B erreichen will, um dem Krokodil die Beute, nämlich mich, zu entziehen. Das heißt: Im Modell Krokodil tue ich nicht, was jemand anders will, sondern da tue ich, was ich selber will. Und das hat weitreichende Folgen für den ganzen Ablauf.

Nehmen wir mal an, um die Geschichte etwas auszubauen, ich begebe mich im Modell Pistole von Punkt A nach Punkt B als weisungsgebundener Mitarbeiter, und plötzlich tut sich vor mir eine hohe Mauer auf, fünf Meter hoch. Was tue ich? Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen und sage: „Mein Kommandant sollte sich, bevor er Anweisungen gibt, besser darüber informieren, ob sie überhaupt ausführbar sind. In meinem Arbeitsvertrag steht nichts drin vom Überwinden hoher Mauern.“ Also werde ich zurückgehen zum Kommandanten und eine neue, ausführbare Anweisung verlangen.
 

Was geschieht im Modell Krokodil, wenn ich gegen eine Mauer laufe? Offenkundig hat es keinen Sinn, mit dem Krokodil zu verhandeln oder unter Hinweis auf irgendwelche Spielregeln das Spiel abzubrechen. Es ist nämlich kein Spiel, sondern der Ernstfall. Und darum muss ich die Mauer überwinden. Egal wie. Es ist eine Frage auf Leben und Tod. Behalte ich meinen Job, oder behalte ich ihn nicht? Habe ich Erfolg, oder ernte ich einen Mißerfolg? Das Krokodil ist hinter mir her, und wenn ich nicht über die Mauer komme, werde ich gefressen. Also los!

 

Wenden wir das Bild auf die Arbeitszeit an! Ich bin in Befolgung der Anweisung unterwegs von Punkt A nach Punkt B, – und plötzlich, mitten auf der Strecke läuft die Arbeitszeit ab! Was geschieht im Modell Pistole? Hier ist das Ende der Arbeitszeit das Ende der Kommandogewalt des Kommandanten. Wenn die Arbeitszeit abgelaufen ist, hat der Kommandant seine Gewalt verloren. Und wenn der Befehl noch nicht ausgeführt ist, die Arbeitszeit aber schon vorbei ist, hat der Kommandant ein Problem. Nicht ich (siehe oben)! Ich kann von diesem Augenblick an wieder tun, was ich selber will, und ich bin unter Umständen weit davon entfernt, zu Punkt B zu wollen. Stattdessen will ich womöglich nach Hause gehen, weil mich als Mensch der Punkt B überhaupt nicht interessiert.

Unnötig zu sagen, dass sich die Szenerie im Modell Krokodil gründlich ändert. Da habe ich ein Problem, das sich nach Ablauf der Arbeitszeit nicht automatisch auf den Arbeitgeber verlagert, sondern bei mir hängen bleibt – und wenn nicht an mir, dann an meinen Kolleginnen und Kollegen (siehe das eingangs geschilderte Beispiel), jedenfalls nicht beim Arbeitgeber. Krokodile orientieren sich grundsätzlich nicht an der Arbeitszeit ihres potentiellen Opfers. Und der Punkt B steht darum auch nicht als ein eigentlich uninteressantes Ziel vor mir, sondern als – mein (eigenes) rettendes Ufer!
 

Und jetzt können wir noch eine letzte Modifikation in dieses Bild einbauen: Während ich unterwegs bin von Punkt A nach Punkt B tritt mir plötzlich ein Betriebsrat in den Weg und ruft mir zu: „Die Arbeitszeit ist abgelaufen! Geh nach Hause!“ Im Modell Pistole bin ich ihm dankbar, denn er macht mich aufmerksam darauf, dass ich meine Arbeit abbrechen darf. Im Modell Krokodil hilft mir der Betriebsrat nicht nur nicht, sondern er wird sogar zu einem zusätzlichen Hindernis bei meiner Flucht vor dem Krokodil! An dem Betriebsrat muß ich nun auch noch vorbei, wenn ich mich in Sicherheit bringen will. Das heißt, es gibt an dieser Stelle seitens des Mitarbeiters so etwas wie einen natürlichen Impuls, Institutionen, die zu seinem eigenen Schutz da sind – es ist nicht nur der Betriebsrat, sondern auch das Arbeitszeitgesetz, Tarifvertrag und Betriebsvereinbarungen und vieles andere – diese Institutionen außer Kraft zu setzen, sie zu umgehen, sie selbst zu unterlaufen.

Der menschliche Wille und die Organisation des Unternehmens

Werfen wir kurz einen wissenschaftlichen Blick auf die beiden Modelle. Es ist klar, dass wir es in den beiden Fällen mit unterschiedlichen Stellungen des Willens des Einzelnen zur Unternehmensorganisation zu tun haben. Die klassische Unternehmensorganisation, hier in der Karikatur ‚Modell Pistole’ gefasst, erreicht die Organisiertheit im Unternehmen durch Unterordnung des Willens des Mitarbeiters während der Arbeitszeit unter den Willen von Vorgesetzten, Chefs, Kommandanten, Managern und so weiter. Die neue Unternehmensorganisation erreicht das organisierte Handeln nicht durch die Unterordnung des Willens des Einzelnen, sondern dadurch, dass sie den eigenen Willen des Mitarbeiters funktionalisiert für den Unternehmenszweck. Und diese Vereinnahmung des eigenen Willen des Individuums für den Unternehmenszweck ist um ein Vielfaches produktiver als die Unterordnung des Willens des Einzelnen. Man muss nur die komplizierten Managementtechniken entdecken und sie dann beherrschen, die dazu erforderlich sind, ein Unternehmen nach dieser Art und Weise zu führen. Das ist hochgradig kompliziert, und viele Erscheinungen, die wir zur Zeit vor uns haben, haben damit zu tun, dass die Manager das auch noch nicht gut genug können. Aber das wird sich noch ändern.

Wenn man sich diese Modelle vor Augen führt, kann man sich mit Aussicht auf Erfolg der Beantwortung der Fragen zuwenden, die ich vorhin anhand des Beispiels des IBM-Kollegen gestellt habe; die Zeit reicht jetzt nicht, um sie alle durchzudiskutieren, aber ich will wenigstens einen Anfang machen.

Wie steht es denn hier mit Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit? Bei der Flucht vor dem Krokodil kommt offenbar beides zusammen! Man will nicht mit Krokodilen konfrontiert werden, aber wenn eines da ist, dann will man weg. Man ist nicht freiwillig auf der Flucht, aber man flieht freiwillig, wenn die Bedrohung da ist. Die Flucht ist eine selbständige Reaktion des Individuums, in der sich sein Überlebenswillen ausdrückt, ein unfreiwillig-freiwilliges Verhalten.

Das zweite, was man sich an diesen Modellen klar machen kann, betrifft die wahrscheinlich größte Schwierigkeit für eine theoretische Interpretation der neuen Organisationsform. Uns ist immer wieder begegnet bei Gesprächen in den Betrieben, gerade mit IBMern, dass sie die gegenwärtigen Reorganisationen als eine radikale Verschlechterung ihrer Lage erleben und als eine Abnahme ihrer Selbstständigkeit. „Selbstständig waren wir früher!“, heißt es dann, „heute sind wir unselbstständiger!“ Ich glaube sie haben unrecht. Sie sind heute selbstständiger als früher. Sie haben nur einen falschen – nämlich vom Modell Pistole geprägten – Begriff von Selbstständigkeit im Kopf, und der verdient revidiert zu werden.

Hochqualifizierte Angestellte hatten in der alten Unternehmensorganisation häufig die Position eines privilegierten Arbeitnehmers. Sie bezogen bei hoher Arbeitsplatzsicherheit hohe Löhne, und sie konnten sich in großzügig bemessenen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen relativ frei bewegen. Die gegenwärtigen Veränderungen erleben sie häufig als Einengung ihrer Spielräume, die sie als Abnahme ihrer Selbständigkeit bei der Arbeit interpretieren.

Das Modell Krokodil soll deutlich machen, dass zunehmende Selbständigkeit im Handeln nicht mit einer Erweiterung von Spielräumen identisch ist, sondern sogar mit deren Abnahme und Einengung verbunden sein kann. Wer vor dem Krokodil wegläuft, produziert auch dann eine ganz und gar selbständige Reaktion, wenn ihm nur ein einziger Fluchtweg offensteht.

Bei der neuen Autonomie in der Arbeit geht es nicht um eine Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, sondern es geht darum, dass man selber konfrontiert wird mit den unternehmerischen Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit (sprich: Krokodil). Jeder, der in der neuen betrieblichen Realität nach den neuen Spielräumen sucht, wird ein völlig verwirrwendes Resultat zutage fördern. Einmal nehmen die Spielräume zu, ein andermal nehmen sie ab. Einige versuchen anhand dieses Kriteriums die Mitarbeiter in Gewinner und Verlierer der neuen Managementformen zu sortieren. Mir scheint entscheidend zu sein, dass die neue Autonomie in der Arbeit von der Zunahme und Abnahme von Spielräumen unabhängig ist. Die – übrigens fremdbestimmte – Gewährung von Spielräumen ist eine Führungstechnik des Kommandosystems (Modell Pistole). Heute geht es um etwas ganz anderes, nämlich darum, dass die Mitarbeiter gefordert sind, selbstständig zu reagieren auf die Rahmenbedingungen, die sie vorfinden und die vom Management zum Teil so arrangiert und teilweise auch konstruiert werden, dass, wenn das Management seine Kunst beherrscht, die Mitarbeiter auf diese Rahmenbedingungen selber – von sich aus – mit Höchstleistung reagieren.

Das Vertrauen, das in der Vertrauensarbeitszeit steckt, ist also begründet, aber es hat nichts zu tun mit einem Vertrauen, das man in Menschen setzt, sondern es ist ein Vertrauen, dass man in bestimmte Managementtechniken setzt.

Ist das Kommandosystem die humanere Alternative?

Ich möchte jetzt abschließend noch eine Hauptfrage in den Raum stellen, die in unseren bisherigen Diskussionen schon berührt wurde. Man könnte ja, wenn man sich die beiden Modelle so vor Augen führt, zu dem Schluss kommen, dass wir es beim Übergang von der Pistole zum Krokodil mit einer reinen Verschlechterung der Lage zu tun haben. Nun wird auch noch die individuelle Selbstständigkeit, der eigene Willen eines Individuums instrumentalisiert für den Unternehmenszweck. Ist das nicht das reinste Teufelszeug? Und nun könnte uns vor diesem Hintergrund das Modell Pistole wie eine halbwegs humane Alternative erscheinen, die den Wunsch nahelegt: Wir wollen unsere gute alte Kommandowirtschaft wiederhaben! Wir verteidigen dann das Kommandosystem von Arbeitnehmerseite aus, um die Schrecken der Krokodilswirtschaft einzudämmen.

In gewerkschaftlichen Diskussionen, die ich mitbekomme, läuft die Sache meistens so, dass alle sofort völlig einverstanden sind, wenn man sagt: Das Verschwinden des Kommandosystems ist gut! Keiner erklärt offen, dass er es wieder haben will. Aber sobald man anfängt über die Folgen des Modells Krokodil zu diskutieren, schleicht sich der Wunsch nach mehr Kommandosystem an allen Ecken und Enden wieder ein. Wir sind vertraut mit seinen Formen und, wichtiger noch, wir wissen, wie wir mit ihnen umgehen können. Es gibt hochwirksame Instrumente, um unter diesen alten Bedingungen die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Unter den neuen Bedingungen dagegen steht man zunächst einmal ziemlich ratlos da und kann zusehen, wie die bewährten Instrumente der Gegenwehr immer unwirksamer werden.

Ich glaube, dass sich an dieser Stelle eine lebensgefährliche Falle auftut. Wer versucht, die Probleme des Modells Krokodil durch eine Verteidigung des Modells Pistole zu lösen, verbarrikadiert sich in einer absoluten Verliererposition. Er wird auf diese Weise in einen Gegensatz zu den Interessen der Mitarbeiter kommen, der taktisch, wie strategisch uneinholbar ist. Das hat nichts damit zu tun, dass das Modell Krokodil doch gar nicht so schlimm ist, wie es aussieht. Sondern es hat etwas damit zu tun, dass die Selbstständigkeit, die es dem abhängig beschäftigten Menschen gibt, Realität ist und keine bloße Einbildung, und dass dies eine Selbständigkeit ist, die mehr wert ist als diejenige, die in erweiterten Handlungs- und Entscheidungsspielräumen liegt – und die auch dadurch und dann nicht entwertet wird, wenn sie mit einer realen Verschlechterung der Lage des Einzelnen verbunden ist.

Erst wenn wir beide Aspekte zusammendenken – die Funktionalisierung des eigenen Willens der Individuen für den Unternehmenszweck und zugleich die unbedingte Aussichtslosigkeit (auf Dauer) jedes Versuchs einer Verteidigung der Formen des Kommandosystems als einer vermeintlich humaneren Alternative – , erst dann haben wir uns das Problem in der erforderlichen Trennschärfe vor Augen geführt.

Die Reaktion desjenigen, der mit dem Krokodil konfrontiert ist, ist seine eigene Reaktion. Er erlebt seine eigenen Kräfte, und wenn er dem Krokodil entkommt, hat er einen eigenen Erfolg erreicht. Er bestätigt in der Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen seine eigenen, individuellen Kräfte. Er selbst erleidet eine Niederlage, er selbst hat einen Erfolg. Er erfährt sich selbst bei der Arbeit. Was den Arbeitgebern, ich will es mal etwas leichtfertig formulieren, mit den neuen Managementformen gelingt, ist so etwas wie die ‚Aufhebung der Entfremdung in entfremdeter Form’. Es ist für die Menschen gut, wenn sie nicht ihren Willen unterordnen müssen, wenn sie sich – das ist ja auch das ideologische Angebot der Arbeitgeber – , in der abhängigen Beschäftigung so verhalten können, als wenn sie selbstständige Unternehmer wären. Sie können sich mit ihrer eigenen Arbeit in einem Maße identifizieren, das unter dem Kommandosystem gar nicht möglich war. Und das macht diese neuen Managementformen zu einem Fortschritt im Vergleich zum Kommandosystem. Das ist ein unbedingter Fortschritt – und zwar auch dann – ich hoffe, dass ich mit dieser These viel Diskussion provoziere – auch dann, wenn es mit einer realen Verschlechterung der Lage der abhängig Beschäftigten verbunden ist.

Die Lage ist meiner Meinung nach dadurch ausgezeichnet, dass um die Auseinandersetzung mit dieser neuen Herrschaftsform kein Weg herumführt, dass wir nicht drum herum kommen, uns vor die Aufgabe zu stellen, aus der neu gewonnenen Selbstständigkeit selber neue Formen zu gewinnen zur Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen.

Die (betriebs-)politischen Formen, die auf diese Situation antworten, müssen noch erfunden werden. Bei IBM und in manchen anderen Unternehmen sind schon praktische Versuche in dieser Richtung unternommen worden, aber sie stehen immer noch am Anfang. Wie sie weiterentwickelt werden können, und ob und inwieweit sie verallgemeinert werden können, ist eine offene Frage. Zwei allgemeine Bestimmungen zukünftiger Politikentwicklung lassen sich aber doch schon formulieren:

Erstens: Jeder muß selber herausfinden, was für ihn selber gut ist … aber:

Zweitens: Keiner kann das alleine!

Die Auseinandersetzung mit meinem eigenen Willen und also die Bestimmung meiner eigenen Interessen kann mir niemand abnehmen (und ich kann sie niemandem abnehmen). Andererseits kann sie nur in einem gemeinsamen Verständigungsprozeß gelingen, – nicht nur weil sie für einen einzelnen viel zu schwierig ist, sondern vor allem, weil das soziale Zusammenwirken der Beschäftigten bei der Arbeit das Medium der indirekten Steuerung ist (siehe das oben angeführte Beispiel über die arbeitgeberfreundliche Wirkung des schlechten Gewissens). Es muß gleichsam zurückerobert werden, wenn das Individuum sich unter den Bedingungen der indirekten Steuerung behaupten will.

Darum ist nicht etwa Vereinzelung und Rückzug auf sich selbst das Gebot der Stunde, sondern, genau umgekehrt, die Initiierung gemeinsamer Verständigungsprozesse im Betrieb. Gegenüber den neuen Managementformen dienen sie nicht bloß der Vorbereitung von betriebspolitischen Aktionen. Sie sind selbst politische Aktionen, weil sie die Dynamik der von selbst ablaufenden Prozesse im Betrieb unterbrechen und damit überhaupt erst die praktische Voraussetzung schaffen für eine selbständige Bestimmung der eigenen Interessen.

Die Humanität der Arbeitswelt wird in Zukunft weniger an der Größe von Spielräumen zu messen sein als vielmehr daran, wieweit die Unternehmen Selbstverständigungsprozesse der Beschäftigten im Unternehmenszusammenhang zulassen und befördern.